Wünsche und Möglichkeiten
Was der HB uns erfüllen könnte
Vanessa Tanner, Juni 2021
Dieser Blogpost reflektiert die Wünsche von ‘leisen Stimmen’, Stimmen von Nutzer:innen des Gebiets rund um den Hauptbahnhof Zürich (HBZ), denen wir über unsere Forschung Gehör verschaffen wollten. In Interviews mit Expert:innen, einer Online Umfragen, Fragebögen, Go Alongs und Mental Maps haben uns diese Nutzer:innen ihre Vorstellungen über die zukünftige Entwicklung des Planungsareals offengelegt. Diese Daten verweisen auf vielseitige Planungsdefizite im Untersuchungsgebiet, das beispielsweise keine Räume zum Verweilen bietet. Zudem detailliert dieser Blogpost die Wünsche der Nutzer:innen nach Räumen zur Erholung, einer erweiterten sozialen Infrastruktur, einer grösseren Beständigkeit der Bausubstanz, Sicherheit, sowie Respekt und Toleranz gegenüber nicht-kommerziellen Nutzungen.
Erholung
Der Wunsch nach erholsamen Räumen am HBZ ist bei den Nutzer:innen stark vertreten. Unsere Daten zeigen, dass in der Gestaltung dieser Räume Ruhe, Gemütlichkeit, Grünflächen, Wetter-schutz, sowie eine Verkehrsreduktion zentral sind. Besonders Arbeiter:innen im ShopVille – eine der von uns befragten Gruppen – wünschen sich eine Reduktion des Verkehrslärms, um sich in ihren Pausen zu erholen.
Ich würde wirklich den Verkehr regeln/vermindern, dass es so wenig wie möglich Autoverkehr um den HB rum hat, vielleicht sogar nur noch Taxis. Ich glaube Taxis wären noch okay. (Persönliches Interview, 27. April 2021)
Auch ältere Personen wünschen sich eine Verkehrsberuhigung, um sich rund um den HBZ sicherer zu fühlen.
Man sollte Minimum in diesem Gebiet 30er Zone haben.
(Persönliches Interview, 11. Mai 2021)
Alle Nutzer:innen wünschen sich eine Erweiterung der be-schränkten Sitzmöglichkeiten, die vor allem von Passagieren und Wartenden eingenommen werden. So bleibt Personen, die am HBZ
arbeiten oder übernachten nichts anderes übrig, als sich auf die un-bequemen Treppen oder den Boden zu setzen (s. Abb. 1). In neun Interviews berichteten die Arbeiter:innen zudem, dass es anstreng-end ist, den ganzen Tag auf den Beinen zu sein, und die weite Distanz zwischen ihrem Arbeitsort und möglichen Pauseräumen im Freien es erschwert, sich in den Pausen bei Tageslicht zu erholen.
Auf die Frage, ob es genügend Sitzmöglichkeiten gibt und sie in der Pause nach draussen ginge, antwortet eine Arbeiterin:
Eigentlich nein, weil für mich es war cool, einfach zu sitzen … zu sitzen und ein bisschen meine Ruhe haben. Und wenn ich rausgehe, [...] Es war super kalt oder, in dieser Zeit (lacht).
(Persönliches Interview,19. April 2021)
Aus Interviews mit Personen, die an Suchterkrankungen leiden geht zudem das Bedürfnis von mehr Grünfläche hervor (s. Abb. 2). Dabei wird hervorgehoben, dass es Bänke speziell für Pensionisten geben soll, die immer wieder eine Pause brauchen wenn Sie einen weiten Weg gehen.
Abbildung 1: Frau sitzt auf der Treppe, eine Nachstellung der Pausensituation am HB (Quelle: A. Müller)
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▲ Abbildung 2: Antwort eines Fragebogens, ausgelegt in der Arud (Quelle: GEO422 FS2021 Teilnehmer:innen)
Soziale Infrastruktur am HBZ
Der HBZ und das Gebietrund um den Bahnhof sind gegenwärtig von Verkehr und Kommerz geprägt. Wie Abbildung 3, eine Collage von mehreren Mental Maps, die junge Personen für unser Forschungs-projekt gezeichnet haben zeigt, wünschen sich Jugendliche eine Diversifizierung des kommerziellen Raums: eine grössere Auswahl an Läden, Take-aways, sowie Pop-up Stores (siehe ebenfalls Alltag am HB im Unterkapitel “sein”).
Jedoch zeigen die erhobenen Daten, dass der Bahnhof nicht nur durch kommerzielle Möglichkeiten geprägt sein soll. Neben den genannten Erholungsorten, wünschen sich Nutzer:innen eine Er-weiterung der örtlichen sozialen Infrastrukturen, etwa saubere
Toiletten, Ladestationen, oder ein Treffpunkt für Jugendliche. Eine Gruppe von Nutzer:innen, die wir als “Macher:innen” bezeichnen, benannte zudem den Bedarf nach geschützten Begegnungsorten zum Verweilen (s. Abb. 4), sowie Schlafplätzen für obdachlose Personen und einer Gassenküche. Für diese Nutzer:innen entspre-chen diese Infrastrukturen Einrichtungen, die viele in ihren eigenen vier Wänden haben, etwa Schlafmöglichkeiten, Erholungsräume, Wärme und saubere Toiletten.
Da wohnungslose Personen, Jugendliche und Arbeiter:innen aus unterschiedlichen Gründen am HBZ verweilen, sind die Wünsche nach öffentlichen Räumen und Infrastrukturen divers.
▲ Abbildung 3: Eine Collage von mehreren Mental Maps von Jugendlichen, dabei in blau was sie sich wünschen am HBZ. (Quelle: GEO422 FS2021 Teilnehmer:innen)
▲ Abbildung 4: Antworten eines Fragebogens, ausgelegt in der Arud (Quelle: GEO422 FS2021 Teilnehmer:innen)
Beständigkeit, Barrierefreiheit und Sicherheit
Baustellen, zu hohe Rampen und Restaurants, die ihre Stühle auf Blindenstreifen stellen, verstärken den Wunsch nach barrierefreien Räumen bei Menschen mit Mobilitätseinschränkungen oder Sehbe-hinderungen, einer weiteren Untersuchungsgruppe des For-schungsprojektes (s. Abb. 5-6).
Für blinde Menschen ist die Veränderung des Baubestandes schwierig, denn der Prozess der Veränderung bedeutet für Perso-nen mit eingeschränkter Sichtmöglichkeit einen massiven Aufwand zur Anpassung, da sie sich neu orientieren müssen.
In einem Interview mit einer erblindeten Person wird deutlich, wie wichtig die Erinnerungen und somit die Beständigkeit eines Ortes sind, um alleine durch den HBZ zu navigieren.
Wenn etwas anders ist als ich es im Kopf habe, eben wenn es Baustellen hat, dann ist es [schwierig] - aber dann muss ich einfach gut hören und noch etwas schauen was ich noch zu schauen habe oder dann eben Fragen.
(Persönliches Interview, 23.April 2021)
I: Wie ist das denn für Sie, wenn Sie in eine neue Stadt kommen?
B: Das geht nicht.
I: Ja ja, sie leben wirklich von den Erfahrungen und Erinnerungen, die sie noch hatten. Dass Sie das mal gesehen haben und Sie wissen ungefähr: hier ist das Central.
B: Ja ja ja, wenn ich jetzt in Bern unterwegs bin, das geht nicht, da muss ich jemanden haben der dabei ist.
(Persönliches Interview, 23. April 2021)
Diese Interviewausschnitte geben einen Einblick in die alltäglichen Schwierigkeiten einer beinah blinden Person, für die ein neuer, un-bekannter Ort (etwa Bern) nicht alleine begehbar ist. Für diese Person ist es wichtig, dass der Raum erkennbar bleibt und wenn Veränderungen vorgenommen werden, diese barrierefrei bewältigt werden können. Die folgende Aussage verstärkt dieses Bild:
Für jemanden, der dann gar nichts sieht, [...] schön wär es halt [...] wenn man Baustellen hat, wenn man da auch die weissen Linien dementsprechend würde anpassen und nachziehen, wenn man etwas für längere Zeit absperrt.
(Persönliches Interview, 23. April 2021)
▲ Abbildung 5: Zu hohe Rampe für Rollstuhlfahrer:innen, Blindenlinien, auf denen Stühle platziert sind. (Quelle: GEO422 FS2021 Teilnehmer:innen)
▲ Abbildung 6: Baustelle vor dem HBZ welche zum Hindernis wird. (Quelle: V. Tanner)
▲ Abbildung 7: Ausschnitt eines Fragebogens einer Person aus die Arud (Quelle:GEO422 FS2021 Teilnehmer:innen).
Respekt
Schließlich wünschen sich Nutzer:innen Respekt und Toleranz. Abbildung 7 zeigt einen Ausschnitt aus einem Fragebogen, den wir bei der Arud, einer suchtmedizinischen Institution, ausgelegt ha-ben. Darin fordert ein/e Nutzer/in in grossen Buchstaben Respekt. Durch die Betonung dieses Wortes kann davon ausgegangen wer-den, dass “Respekt” ein sehr wichtiger Faktor für diese Person ist. Dieser Wunsch nach Respekt zeigt auf, dass der HBZ auch ein Ort der Ausgrenzung sein kann und die befragte Person Respekt-losigkeit erfahren hat.
Für ein Verständnis dieser Forderung ist es wichtig sich aktuelle Nutzungskonflikte und die historische Bedeutung des Gebiets rund um den HBZ in Erinnerung zu rufen. Mit der Europaallee und der Bahnhofstrasse auf der einen Seite und dem Platzspitz, auf der anderen, steht ein prominentes und luxuriöses Einkaufszentrums, einem historischen Drogenumschlagplatz gegenüber. Unsere Inter-views mit unterschiedlichen Nutzer:innen verweisen auf die fort-währende Bedeutung dieser Kontraste. Was zudem noch vorhanden ist, sind Vorurteile gegenüber dem Platzspitz, sowie Ausgrenzungs-erfahrungen von Personen, die unter einer Suchterkrankung leiden. Im in Abbildung 8 gezeigten Fragebogen erwähnt eine Nutzer:in der Arud, dass es um den HBZ an folgendem fehlt: “Wärme, Wertschätzung” und “allgemein: Mut, Fairness und nicht stets auf Kosten der Ärmsten weiter sparen etc.” Nicht zuletzt verweisen diese Wünsche nach gesellschaftlicher Anerkennung der leisen Stimmen - etwa wie hier suchtkranken Personen - auf eine Stigma-tisierung dieser heterogenen Gruppe.
Eine suchterkrankte Person verweist auf frühere Zeiten, in denen auf Sitzbänken übernachtet werden konnte.
Ja genau, auch dort beim Central, auf der anderen Seite, dort gibt es genug Trottoirs, aber keine Sitzbänke. [...] Also ich weiss, dass die Leute darauf übernachtet haben und dass das ein Grund gewesen ist, weshalb [es diese nicht mehr gibt]... Aber eben mit so einer Lösung, dass man aufteilt [meint hier mit Armlehnen] oder so, wo keiner sich hinlegen kann, geht doch. (Persönliches Interview, 23.Mai.2021)
Wichtig dabei ist der Ausschnitt aus dem Zitat “und, dass das ein Grund gewesen ist, weshalb [es diese nicht mehr gibt]”. Auch dieser Hinweis auf Verdrängungserfahrungen, erklärt den Wunsch der Macher:innen nach Respekt und Toleranz.
Zudem zeigt eine Online-Umfrage, an der 61 Jugendliche teil-nahmen, dass 7 dieser Personen als erstes an Sicherheit denken, wenn sie gefragt werden, was ihrer Meinung nach rund um den HBZ fehlt.
Schliesslich kann gesagt werden, dass eine Befragung der leisen Stimmenwichtige Erkenntnisse bieten, die in die Planung des Gebie-tes um den HBZ miteinbezogen werden sollten. Auch wenn Passant:innen des HBZ im schnellen Ankommen und Weggehen solche “kleinen” Bedürfnisse möglicherweise übersehen, sind die Wünsche dieser Nutzer:innen zentral: Mehr Grünflächen und über-dachte Sitzmöglichkeiten, Treffpunkte für Jugendliche, eine Diversi-fizierung der Einkaufsinfrastruktur, Respekt gegenüber jedem, Schlafmöglichkeiten, erholsame Orte, Ladestationen und saubere Toiletten: das sind alles Dinge, die von den leisen Stimmen rund um den HBZ gewünscht werden.
▲ Abbildung 8: Ausschnitt eines Fragebogens einer Person aus die Arud (Quelle: GEO422 FS2021 Teilnehmer:innen).